Kevin Garvey (Justin Theroux) ist im Jenseits glücklicher als im Leben, zumindest hat er seiner Exfrau Laurie (Amy Brenneman) das in der letzten Episode von The Leftovers verraten. Es überrascht also nicht, dass Serienschöpfer Damon Lindelof und sein Ko-Autor Nick Cuse ihrem Protagonisten in der Episode The Most Powerful Man in the World (and His Identical Twin Brother) einen weiteren Aufenthalt in dem Zwischenreich gönnen, in dem er sich lebendiger fühlt als in der Realität.
Let go
Hätte es nach den beiden Ausflügen in das Hotel beziehungsweise die Karaokebar in der zweiten Staffel unbedingt noch einmal eine ganze Episode gebraucht, um die Geschichte dieser außergewöhnlichen Serie zufriedenstellend zu Ende zu bringen? Ich bin in dieser Frage gespalten, da ich einerseits nicht der allergrößte Fan von solchen Traum-Episoden bin, andererseits aber auch verstehe, wie zentral der Übertritt ins Jenseits für die Charakterzeichnung des depressiven, von Selbstmordgedanken heimgesuchten Kevin ist.
Die Episode ist witzig und amüsant, keine Frage. Aber erstens ist der Einsatz dieses Erzählelements beim dritten Mal weit weniger überraschend, und zweitens ereignen sich die eindrücklichsten Szenen in der Realität, zwischen Kevin und seinem Vater (Scott Glenn) oder Michael (Jovan Adepo). Den langen Traumsequenzen haftet stets auch die Unwissenheit darüber an, ob sich das alles nur in Kevins Gedanken abspielt oder ob es in der Welt von „The Leftovers“ wirklich solche Zwischenreiche gibt. Eine Erklärung dafür braucht es sicherlich nicht, größere emotionale Konsequenzen lassen sich aber meiner Meinung nach trotzdem in der echten Welt generieren.
Besonders viel Sinn ergibt es nicht, was Kevin in der alternativen Realität widerfährt. Er wurde vom eigenen Vater, von John (Kevin Carroll), Michael und Grace (Lindsay Duncan) dorthin geschickt, um deren Nachrichten zu übermitteln beziehungsweise Fragen beantworten zu lassen. Der vermeintlich wichtigste Auftrag kommt von Kevin senior, der weiterhin glaubt, eigenhändig die Welt retten zu können, käme er doch nur an den Song von Christopher Sunday (David Gulpilil), den er als einzigen Schutzmechanismus vor der kommenden Flut erachtet.
Gestatten: Präsident Kevin Garvey (Justin Theroux) © HBO
Die Welt, in die Kevin buchstäblich eintaucht, ist noch ein wenig absurder als in International Assassin. Er trifft dort auf viele alte Bekannte, was aufmerksame Zuschauer bereits im Vorspann erkennen konnten. Hundekiller Dean (Michael Gaston) rettet Kevin vor einem Angreifer, bringt ihn zurück in seine Strandhütte und beauftragt ihn - den Auftragskiller Kevin Harvey - mit dem Mord am US-Präsidenten. Christopher Sunday ist in dieser Welt der australische Premierminister, und in spiegelnde Flächen sollte auf gar keinen Fall geschaut werden.
He was alone, and all was well
Als Kevin das trotzdem tut, erfährt er sofort, was dadurch passiert. Er schlüpft in die Rolle seines eineiigen Zwillings, des US-Präsidenten Kevin Garvey. Der hat sich von den Guilty Remnant und ihrer zahlenmäßig offensichtlich stark gewachsenen Anhängerschaft ins mächtigste Amt der Welt hieven lassen. Ihr Programm ist nun weniger strikt, Vorschriften wie das Rauchen sind aufgegeben worden, weil Traditionen wertlos seien. Aus dieser Überzeugung ist eine Art Anti-Familien-Programm erwachsen, das als zentrales politisches Vorhaben dieser Regierung angesehen werden kann.
Wirklich wichtig sind die Details aber nicht. Interessanter ist vielmehr, dass Kevin an der Erfüllung seiner Aufträge scheitert. Von Graces Kindern bekommt er nicht die erwünschte Antwort, Evie (Jasmin Savoy Brown) glaubt ihm nicht, dass ihr Vater eine Liebesbotschaft an sie ausgesendet hat, und Chistopher Sunday verweigert ihm den Song, weil der sowieso nicht dazu gut sei, den Regen aufzuhalten. Wichtiger ist aber sowieso die Begegnung mit Erzrivalin Patti (Ann Dowd) und deren GR-Nachfolgerin Meg (Liv Tyler).
Die füllen die Rollen als seine Verteidigungsministerin beziehungsweise Vizepräsidentin aus, haben aber unterschiedliche Agenden. Patti drängt Präsident Kevin dazu, einen nuklearen Erstschlag gegen ukrainische Separatisten auszuführen, weil die angeblich ein Atom-U-Boot gekapert haben und jeden Moment losschlagen könnten. Wie das bei Patti bislang stets der Fall war, wird aus ihrer Figur jedoch im Laufe der Episode eine ambivalentere, als man das zunächst hätte annehmen können. Sie will die Zerstörung dieser (Traum-, Zwischen-)Welt, ja, aber sie will Kevin damit helfen, dauerhaft in der echten Welt bleiben zu können.
Händchenhaltend in den Untergang © HBO
Zunächst sträubt sich Kevin dagegen, weil er immer noch daran glaubt, seine Aufträge erfüllen zu können. Die Schlusspassage aus seiner Untitled Romance Novel, in der es um die verhängnisvolle Liebesgeschichte zwischen ihm und Nora (Carrie Coon) geht, überzeugt ihn dann aber doch davon, das Fischer-Protokoll zu initiieren, seinen Zwillingsbruder aufzuschneiden, dessen Herzkammer den Schlüssel mit den nuklearen Aktivierungscodes zu entnehmen und die Welt in Flammen aufgehen zu lassen. Händchenhaltend schauen Patti und er bei der Vernichtung seines Vorstellungsreichs zu.
Now what?
Die Erkenntnis, die er und sein Spiegelbild davor gewinnen, ist schlicht, für Kevin aber möglicherweise lebensverändernd: „We fucked up with Nora.“ Der Moment hat mich an die Schlussszene des Films „Into the Wild“ erinnert, in der der in die selbstgewählte Isolation geflüchtete Christopher McCandless kurz vor seinem Hungertod niederschreibt, worin wahres Glück besteht: „Happiness only real when shared.“ Mit Nora hatte Kevin endlich jemanden, der ihn in all seiner Depression und Weltabgewandtheit verstand, wie die Eröffnungsszene dieser Episode sehr schön illustriert.
Dann jedoch hat er auch sie vergrault, und das auf die brutalstmögliche Art. Ob es ein Comeback für die beiden geben kann? In der unnachgiebig düsteren Welt von The Leftovers ist das schwer vorstellbar, obwohl es doch eine sehr schöne Vorstellung ist, würden die beiden irgendwie wieder zueinander finden. Die Szene am Ende der Auftaktepisode zur dritten Staffel nährt die Hoffnung darauf aber nicht unbedingt. Als die gealterte Nora aka Sarah darin auf Kevin angesprochen wurde, sagte sie nur, dass sie ihn nicht kenne.
Auch deshalb ist es ein bisschen schade, dass uns nun wirklich nur noch eine Episode bleibt, um unsere geliebten Figuren zu verabschieden. Was ist aus Laurie geworden? Hat Nora es geschafft, den LADR zu benutzen? Was wird aus Kevin und seinem Vater, aus Grace, Michael und John, nun, da sie keine Ziele mehr haben und die Welt nicht untergegangen ist? Sollen sie etwa darauf warten, was dem verrückten Alten als nächstes von seinen Stimmen im Kopf aufgetragen wird? Ich könnte davon jedenfalls noch viel mehr als nur eine Episode schauen. Trotzdem bin ich dankbar, dass wir immerhin 28 von diesem Kleinod bekommen haben.
Trailer zu Episode 3x08: 'The Book of Nora'