Jobs, die andere Menschen involvieren, fördern oft die Fantasie, soziale Spielregeln zu brechen. Wie gern würde man im Service und Verkauf der Kundschaft einmal richtig vor den Kopf stoßen? Wie viel schneller ginge Beratung ohne Höflichkeit? Und kann professionelle Distanz in der Medizin den Behandelten nicht sogar schaden? Die dritte dieser Fragen will die neue Therapeutenserie Shrinking bei Apple TV+ klären. How I Met Your Mother-Star Jason Segel spielt hier einen Seelenklempner, dem nach dem Tod seiner großen Liebe alles egal geworden ist. Gegenüber seinen Patient:innen hält er nichts mehr zurück, was interessanterweise für Bewegung in seinen festgefahrenen Fällen sorgt.
„Shrinking“ kann im Englischen sowohl „Therapieren“ als auch „Schrumpfen“ heißen. Der von Segel porträtierte Charakter Jimmy Laird tut beides: Ersteres beruflich, Zweiteres privat. An Jimmys Seite steht sein betagter Boss und Mentor Dr. Paul Rhodes, der grimmig wie eh und je von Filmlegende Harrison Ford („Star Wars“, „Indiana Jones“) zum Leben erweckt wird. Jessica Williams („Phantastische Tierwesen“) bringt derweil jugendlichen Schwung in die sonst recht triste Praxis.
Hinter den Kulissen sind neben Segel - der nach Dispatches from Elsewhere und Winning Time endlich wieder eine richtig, richtig gute Serienrolle gefunden haben könnte - auch der Scrubs-Schöpfer Bill Lawrence und sein Ted Lasso-Teamkollege Brett Goldstein (aka Roy „Fucking“ Kent) beteiligt. Ihr Fußballformat, das dieses Jahr vermutlich seine letzte Saison spielen dürfte, hat so gut wie jeden Preis gewonnen, und gilt zudem als mit Abstand beliebtestes Apple-Original.
Mit „Shrinking“ wollen Lawrence, Goldstein (und Segel) nahtlos an frühere Erfolge anknüpfen. Tatsächlich merkt man der zehnteiligen Auftaktstaffel (neun der Folgen durften wir bereits sehen) einen ähnlichen Spirit an. Die Serie schafft es genauso, Humor im Schmerz zu finden; sie wirkt melancholisch optimistisch. Ihre Figuren sind nicht ignorant und arrogant - nach der typischen Sitcom-Formel à la Seinfeld oder Friends -, sondern offenherzig und verletzlich. Beeindruckend ist besonders, wie perfekt Segel in diesem Stil aufgeht. Ein würdiger Erbe, falls „Ted Lasso“ bald in den Ruhestand geht...
Worum geht's?
Im Mittelpunkt von „Shrinking“ steht der in Los Angeles praktizierende Psychotherapeut Jimmy (Segel), den der Tod seiner Frau Tia (Lilan Bowden, Murderville) sichtlich gezeichnet hat. Manchmal fährt er schon weinend auf dem Fahrrad zur Arbeit, und muss sich dann den ganzen Tag dem Leid anderer Menschen aussetzen. Irgendwann reicht es ihm, er bricht mit seinem Berufsethos und wählt einen unorthodoxeren Ansatz. Statt zuzuhören, fängt er an zu reden, ganz direkt und unverhohlen. Einen Patienten, den kriegstraumatisierten Sean (Luke Tennie), lässt er sogar bei sich wohnen.
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Ähnlich wie bei Ted Lasso haben wir es also auch bei Shrinking mit einem Protagonisten zu tun, der für seinen Job vollkommen unqualifiziert ist. Dummerweise hat man sich beim Therapeutenberuf diesmal für ein Feld entschieden, bei dem Fahrlässigkeit viel gefährlicher sein kann als bei einem Fußballtrainer. Die größte Schwachstelle der Serie ist daher, wie inkonsequent sie mit Jimmys therapeutischen Tabubrüchen umgeht, selbst von seinem Chef kriegt er nur halbherzige Verwarnungen, obwohl er eigentlich sofort seine Zulassung verlieren müsste.
Tatsächlich würde es auch innerhalb der Spielregeln der Psychotherapie Methoden geben, die für so eine Serie spannend genug wären, ohne gleich kriminell zu sein. Es gibt zum Beispiel paradoxe Interventionen, die genau in solchen Fällen zum Einsatz kommen, die Jimmy so frustrieren, also die festgefahrenen. Hier werden therapeutische Ratschläge gegeben, die kontraproduktiv scheinen. Einer Person mit Zwangsstörung könnte man sagen, sie soll morgen nicht vier Stunden lang das Haus putzen, sondern sechs Stunden. Das kann ein Weckruf sein, aber Patient:innen beleidigen oder zu aufdringlich werden, Jimmys patentierte neue Praktik, ist sicher nicht der richtige Weg...
Siehe auch: SJ-Therapie 5x03: In Treatment und Psychotherapie in Serien
Aber in Wahrheit geht es bei „Shrinking“ gar nicht hauptsächlich um Therapie, sondern darum, sich vor sich selbst und seinen Liebsten ehrlich zu machen (so wie es bei „Ted Lasso“ nicht um Fußball, sondern um Freundschaft geht). Und in dieser Hinsicht ist die neue Apple TV+-Serie ein echter Erfolg, was vor allem ihrem großartigen Ensemble zuzuschreiben ist. Auf Anhieb liebt man sämtliche Figuren, zu denen neben den bereits erwähnten Rollen von Segel, Ford, Williams (!!!) und Tennie unter anderem auch Jimmys kluge Teenie-Tochter Alice (Lukita Maxwell, Generation), seine freche Nachbarin Liz (Christa Miller, Cougar Town - die Ehefrau von Lawrence) oder sein bester Freund Brian (Michael Urie, Ugly Betty) gehören.
Eine weitere Stärke von „Ted Lasso“, die Lawrence und Goldstein bei „Shrinking“ unterbringen konnten, ist die ungewöhnliche, aber stets erfolgreiche Paarung dieser verschiedensten Charaktere. Eine der schönsten und lustigsten Kombis ist die des alten Haudegens Paul und der jungen Alice, deren Gesprächen auf der Bank man ewig zuhören könnte. Lawrence bleibt sich nach Dr. Cox aus Scrubs und Roy Kent treu, was seine Tradition der „grumpy Teamcaptains“ angeht.
Die zweite große Säule ist hingegen die Chemie zwischen Segel und Williams, wobei Segel fast mit allen vibet (seine Wutanfälle gegenüber Liz sind ebenfalls brillant). Und auch das Thema Musik spielt eine wichtige Rolle, wenn es darum geht, „Ted-Lasso“-Fans abzuholen, denn der Komponist Tom Howe bringt wieder denselben Indie-Rock-Klang zurück. So hat man schon nach dem Intro das Gefühl, dass „Shrinking“ einen großen Bruder hat...
Wie ist es?
Alles in allem können wir der neuen Apple-Serie also eine deutliche Empfehlung aussprechen, besonders für diejenigen, die schon „Ted Lasso“ geliebt haben. Ich persönlich bin wie gesagt auch sehr erfreut darüber, dass Jason Segel, der bei How I Met Your Mother so fantastisch war, endlich wieder einen Part gefunden hat, der perfekt zu ihm passt. Seine liebenswürdige Loserhaftigkeit gibt genau die richtigen Nuancen für diese clevere Feel-Good-Dramedy, in der die Figuren sich alle nicht so gut fühlen. Und notfalls ist da noch ein kompletter Cast, der das Ganze ebenfalls tragen könnte, falls Segel es mal nicht kann. Vier von fünf Fahrradhelmen für die ersten neun der insgesamt zehn Folgen.
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Hier abschließend noch der Trailer zur neuen Apple-Serie „Shrinking“, die nun beim Streamingdienstgestartet ist: