Da haben wir sie nun also, die große, unerwartete Überraschung zum Ende der HBO-Miniserie Sharp Objects, die vor allem die Zuschauer auf dem falschen Fuß erwischt hat, die mit der gleichnamigen Buchvorlage von Gillian Flynn nicht vertraut sind. Ich würde jedoch behaupten, dass es im Fall der Serie und ihrem schockierenden Schlusspunkt keine wirkliche Rolle spielt, ob man im Vorfeld weiß, wer hinter den Mordfällen an zwei unschuldigen Mädchen in Wind Gap gesteckt hat. Die eigentliche Stärke liegt nicht in der schockierenden Enthüllung an sich, dass die von Adora (Patricia Clarkson) extrem umsorgte Amma (Eliza Scanlen) für diese Gräueltaten verantwortlich gewesen ist, was Camille (Amy Adams) im letzten Augenblick der Serie mit Entsetzen versteht. Nein, es ist die Inszenierung dieser Enthüllung und die Art und Weise, wie wir uns langsam auf diesen Punkt zubewegt haben, die „Sharp Objects“ und dieses Finale so besonders machen.
Damit ist Regisseur Jean-Marc Vallée und seinem Team ein wunderbares Kunststück gelungen, von dem jede Serienadaption eines Buchtitels träumt. Die Verantwortlichen für ein solches Projekt wissen bereits im Vorfeld, dass ein nicht unbedeutender Teil der Zuschauerschaft exakt weiß, wohin die Reise letzten Endes gehen wird. Natürlich kann man das Ausgangsmaterial etwas anpassen, was im Fall von „Sharp Objects“ stellenweise auch getan wurde. Grundsätzlich ist man dem Roman von Gillian Flynn, die für die Finalepisode Milk gemeinsam mit Serienschöpferin Marti Noxon das Drehbuch verfasst hat, aber treu geblieben, so viel konnte man selbst als Nichtkenner des Buches, zu denen auch ich mich zähle, vernehmen. Die Herausforderung war es, aus dem gegebenen Material etwas Eigenes und doch Vertrautes zu schaffen, den Geist der Vorlage einzufangen und doch eine persönliche Stimme zu entwickeln, die Geschichte einnehmend vorzutragen.
Verbrannt und vergiftet
Und das hat man geschafft, allen voran dank einer unfassbar atmosphärischen Inszenierung, die sich mehr als einmal sehr viel Zeit gelassen hat, in den letzten beiden Episoden der Miniserie aber noch einmal zu absoluter Hochform aufgelaufen ist. So sehr, dass der Inhalt der Geschichte fast schon in den Hintergrund rückt und man sich vielmehr in diese düstere, bedrückende Welt fallen lässt, die so furchteinflößend und faszinierend zugleich ist. Es ist befriedigend, am Ende der Staffel die abscheuliche Wahrheit zu erfahren und Antworten auf die vielen offenen Fragen zu erhalten. Nicht weniger befriedigend (wenn nicht sogar mehr, je nachdem, wie masochistisch man veranlagt ist) ist es, ein allerletztes Mal von der schrecklich unangenehmen Stimmung, die sich in „Milk“ aufbaut, quälen zu lassen. Man möchte eigentlich von dieser unbequemen Gefühlswelt mit aller Kraft Reißaus nehmen. Aber man kann es einfach nicht. Ein Dilemma, mit dem auch einige der zentralen Charaktere bestens vertraut sind.
Was in der vorangegangenen Episode Falling begonnen wurde, wird nun konsequent weitergesponnen: Wir begeben uns endgültig hinein ins Höllenhaus der Familie Crellin, in dem Adora seit Jahren ihren Nachwuchs umsorgt beziehungsweise gefoltert hat, um von der Abhängigkeit von Marion, Camille und Amma zu ihr zu zehren. Marion hat dafür mit dem Leben bezahlt, doch für Amma ist es noch nicht zu spät. So opfert sich Camille - die eine, der die Flucht gelungen ist - für ihre Halbschwester, um Amma zu retten. Es entwickelt sich eine Art krankes Geiseldrama, in dem erst Amma und dann Camille mit den dubiosen Mittelchen (darunter Rattengift, wie wir später erfahren) schwach und hilflos gemacht werden, so dass sie sich an ihre Mutter Adora klammern, die für ihre Liebsten natürlich immer da sein wird.
Es ist wahrlich nicht einfach, sich diese unglaublichen Szenen anzusehen. Adoras verschobenes Weltbild und die Vorstellung davon, was ein Kind seiner Mutter schuldet (alles, offensichtlich), rührt scheinbar von der problematische Beziehung zu ihrer eigenen Mutter, die ihr bereits in frühen Jahren deutlich gemacht, wo ihr Platz ist: zu Hause, bei ihr. Und aus dem Zuhause Adoras gibt es nun kein Entkommen mehr, Mittäter Alan (Henry Czerny) lässt seine Frau gewähren und unterstützt mit unscheinbaren Aktionen ihr Handeln. Als Richard (Chris Messina) den Crellins einen Besuch abstattet und sich nach Camille erkundigt, die sich zeitgleich völlig erschöpft und zermürbt aus der Badewanne wuchtet, um auf sich aufmerksam zu machen und nach Hilfe zu rufen, läuft es einem kalt den Rücken herunter. Richard wird mit einer erschreckenden Routine von Alan abgewimmelt, „Giftmischerin" Adora ist sich ohnehin keiner Schuld bewusst, will sie doch nur das Beste für ihren Nachwuchs: die endlich zurückgekehrte, hilfsbedürftige Camille und die unschuldige Amma.
Die Königin der Unterwelt
Die unschuldige Amma. Wir haben beide Seiten von ihr gesehen: Die devote, gehorsame Tochter im langen Sommerkleid mit adrettem Pferdeschwanz, und die freche Möchtegernlolita mit einer Vorliebe für Rauschmittel aller Art. Wie sich nun in diesem Finale zeigt, hat Amma nicht nur körperliche, sondern auch extreme mentale Schäden von der mütterlichen „Fürsorge" Adoras davongetragen. Anfangs wirkte Ammas rebellisches und mitunter sehr verletzendes Verhalten gegenüber Camille wie eine Laune ihres jugendlichen Alters, wie ein simples Ventil, um der Beklemmung im Hause Crellin zu entkommen, oder aber wie ein eigenwilliges Mittel, um eine Beziehung zu der Schwester aufzubauen, die sie nie wirklich hatte. Mit all den Informationen, die uns nun am Ende von Sharp Objects zur Verfügung stehen, zeichnet sich ein komplexeres Bild.
Die toxische Mutter-Tochter-Beziehung hat ihren Tribut gefordert. Selbst, nachdem Adora für den Tod von Marian und den vermeintlichen Mord von Natalie und Ann überführt und inhaftiert wird, fühlt sich Amma trotz aller Misshandlungen nach wie vor sehr zu ihr hingezogen. Über Jahre der Fürsorge respektive des Missbrauchs hat sich bei Amma eine ungesunde Abhängigkeit von ihrer Mutter entwickelt, was sie letztlich auch dazu getrieben hat, aus Eifersucht Natalie und Ann zu töten, um die sich Adora zwischenzeitlich gekümmert hatte. Als Ammas neue Freundin Mae, die sie nach ihrem Umzug nach St. Louis zu Camille kennengelernt hat, beim gemeinsamen Abendessen durchscheinen lässt, dass Camille eine Art Vorbild für sie ist, setzt Amma einen Blick auf, mit dem man wahrscheinlich töten könnte. So, wie Adora ihr Aufmerksamkeit gegeben hat, soll jetzt auch Camille nur für sie da sein. Und wer Amma diesen Platz an der Sonne streitig macht, wird entfernt.
So spannend und erleuchtend es im Nachhinein ist, die Lücken der Erzählung zu schließen, deren struktureller Aufbau auch in der Finalepisode Milk ein Genuss ist, so faszinierend ist es auch, sich einzelne Momente der Folge herauszupicken, die unter die Haut gehen: das gespenstische Auftreten von Persephone-Double Amma; der entsetzte, wissende Blick von Camille, kurz bevor sie von Adora „Medizin" verabreicht bekommt; die schockierende Aufnahme am Ende der Episode, als Camille im Puppenhaus von Amma mehr als einen Zahn entdeckt - es sind eben nicht nur das wunderbare Arrangement all dieser Szenen, der unverändert hervorragende Schnitt und die tollen Übergänge, die „Sharp Objects“ auszeichnen. Vallée versteht es auch perfekt, auf Momente und schiere Augenblicke hinzuarbeiten, diese unnachahmlich einzufangen und einzigartige Bilder in die Köpfe der Zuschauer zu pflanzen, die sich dort dann regelrecht festbeißen.
Ich persönlich war lange Zeit unentschlossen, was ich von Sharp Objects halten soll. Der langsame, gelegentlich nahezu ermüdende Aufbau der einzelnen Folgen stellte sich als wöchentliche Geduldsprobe heraus, so überdurchschnittlich gut die Darbietungen und die audiovisuelle Umsetzung auch waren. Doch dann hat es irgendwann klick gemacht. Kein Vorwurf an all diejenigen, die vielleicht verfrüht aufgegeben haben. Doch vielleicht sollten sie es ein weiteres Mal probieren. Denn selbst, wenn man weiß, wie die Geschichte enden wird, der zurückgelegte Weg ist letzten Endes außergewöhnlich. Außergewöhnlich entsetzenerregend, außergewöhnlich bewegend, außergewöhnlich gut.
Sonstige Gedanken:
- Neben Amy Adams, Patricia Clarkson und Newcomerin Eliza Scanlen, die allesamt ganz fantastisch aufspielen, hat sich an dieser Stelle auch noch einmal Taylor John Smith ein ausdrückliches Lob verdient. Die Befragung von John Keene durch Vickery und Richard dauert nicht lang, Taylor John Smith holt aber das absolute Maximum aus dieser kurzen Darbietung heraus.
- Die Mittäter und -wisser von „Munchausen Mom" Adora werfen nach wie vor ein paar Fragen bei mir auf: In einer Szene scheint es so, als würde Alan heftig mit sich selbst kämpfen, Adoras krankhaftem Verhalten den Riegel vorzuschieben. Er tut es nicht. Aber er spendiert Amma ein Stück Kuchen. Tolle Geste. Hinsichtlich Sheriff Vickery (Matt Craven) ist es derweil unklar, wie viel er letztlich wusste und ob er Adora vielleicht sogar ein Stück weit geschützt hat. Jackie (Elizabeth Perkins) hat indes komplett ihre Gunst bei Camille verspielt, die einen dicken Haken hinter Wind Gap, Missouri gemacht hat.
- Nachdem die Idee von Camilles Herausgeber Frank Curry (Miguel Sandoval), sie zurück in ihre Heimatstadt zu schicken, nicht die Beste war, rehabilitiert er sich im Finale mit seinem beherzten und sehr väterlichen Auftreten. Im Buch kümmert er sich am Ende übrigens gemeinsam mit seiner Frau um Camille, als wäre sie seine eigene Tochter. Aus Camilles Artikel ist übrigens eine bewegende Erzählung aus der Ich-Perspektive geworden. „It's beautiful.“
- Zwei interessante Details, als Camille nach Adoras Behandlung wie im Delirium durch das Haus wandelt: In einer Szene sieht es so aus, als würden plötzlich all ihre Narben verschwinden, nachdem sie sich in die Obhut ihrer Mutter begeben hat. Adoras Mittelchen hätten vielleicht gegen den seelischen Schmerz geholfen und Camilles Selbstverstümmelung verhindert. Letztlich hätte Camille wohl aber das grausige Schicksal ihrer kleinen Schwester Marian (Lulu Wilson) geteilt. Diese sieht man übrigens noch einmal kurz, bevor Frank und Richard ins Haus stürmen. Marian lächelt Camille dabei an, als würde sie ihr signalisieren wollen, dass sie es geschafft hat und alles gut wird.
- Wer die Episode vorzeitig während des Abspanns beendet hat, sollte vielleicht noch einmal kurz reinschauen. Das Finale hat nämlich gleich zwei Post-Credits-Szenen zu bieten. Eine zeigt brutale, wild zusammengeschnittene Szenen, wie Natalie, Ann und Mae von Amma umgebracht werden. Kurz vor dem Ende sehen wir dann noch einmal die weiße Hexe von Wind Gap: Amma, in all ihrer unschuldigen Pracht.
- „Don't tell mama...“ - Ein heißer Anwärter für den Titel „Serienzitat des Jahres".
Wie hat Euch „Sharp Objects" gefallen? Seid Ihr zufrieden mit dem Ende der Miniserie und wünscht Ihr Euch vielleicht sogar eine zweite Staffel?