Die HBO-Miniserie Sharp Objects hat sich Zeit gelassen. Das mysteriöse Verschwinden und der Mord an zwei jungen Mädchen in einer unscheinbaren Kleinstadt mag der Ausgangspunkt für die Murder-Mystery gewesen sein, doch eigentlich hat sich dieser Aspekt der Erzählung in weiten Teilen als eher nebensächlich erwiesen. Es diente vielmehr als Vehikel, um in die verschiedenen Figuren und diesen seltsamen Ort einzutauchen, der permanent von einer gefährlichen Aura umgeben ist, selbst, wenn uns nicht so recht gelingen mag, mit Bestimmtheit zu sagen, was hier im Argen liegt. Dunkle Geheimnisse, die im Verborgenen versteckt sind und nur langsam an die Oberfläche gebracht werden, ugly gossip, gemeine Gerüchte, die die Stadt am Leben erhalten - das ist Wind Gap, Missouri.
Camille Preaker (Amy Adams) ist dieser Welt einst erfolgreich entkommen, wobei „erfolgreich" in diesem Fall eher relativ zu verstehen ist, hat sie doch wortwörtlich und im übertragenen Sinne unzählige Narben von der Zeit in ihrem Heimatort mitgenommen. In den letzten Episoden haben wir hautnah miterlebt, dass ihre Rückkehr eine schreckliche Fehlentscheidung gewesen ist - oder aber vielleicht doch genau das, was sie gebraucht hat und tun musste, um sich ihren eigenen Dämonen zu stellen... In der Episode Falling erreichen wir nun den vorzeitigen Höhepunkt der Geschichte, was weniger mit der vermeintlichen Auflösung des Falles und mehr mit der Erkenntnis von Camille zu tun hat, wer ihre Mutter Adora (Patricia Clarkson) wirklich ist und wie sie maßgeblich für die Schmerzen Camilles sowie den Verlust ihrer Schwester Marian verantwortlich war.
Geteiltes Leid ist halbes Leid
Wir erhalten weitere, erschütternde Einblicke in das seelische Innenleben von Camille, die in dem suizidgefährdeten John Keene (Taylor John Smith) eine verwandte Seele findet, die ein vergleichbares Leid hat durchmachen müssen wie sie. Daher rührt auch das innige Verhältnis zwischen den beiden, das sich sehr schnell etabliert. Camille versteht John und John versteht Camille. Wie vernünftig oder smart es ist, mit dem Hauptverdächtigen in den aktuellen Mordfällen ins Bett zu steigen, darf hinterfragt werden. Dass sich die beiden zueinander hingezogen fühlen und aufgrund ihrer furchtbaren Erfahrungen Geborgenheit beim jeweils anderen suchen, ist jedoch nachvollziehbar. In den Szenen zwischen Camille und John, ob jetzt in der Bar oder im Motelzimmer, merkt man beiden Charakteren die gesamte emotionale Last an, die auf ihren Schultern liegt. Selten haben wir beide Figuren so offen und verletzlich gesehen.
Während Camille und John ihr Leid teilen, beschäftigt sich Richard (Chris Messina) weiter eindringlich mit Camilles Lebensgeschichte. Aber nicht nur das, er findet auch heraus, dass Matriarchin Adora Crellin mehr als nur ein dunkles Geheimnis hat und in der Vergangenheit sogar so weit gegangen ist, ihre eigene Tochter Marian zu verletzten, damit diese auf ihre Mutter angewiesen ist. Unzählige Krankenakten belegen dies. „The plot thickens...“ Über Richards Verhalten gegenüber Camille, die er hart abwatscht, nachdem er sie beim Schäferstündchen mit John erwischt hat, lässt sich indes streiten. Sicherlich hat Camille einen Fehler begangen, doch Richards verletzter Stolz ruft die hässlichste Seite in ihm hervor, die ich so nicht erwartet hätte. Scheinbar hat ihm Camille eben doch sehr viel bedeutet und so lässt er seine Wut vollends an ihr aus. Ob das der Reporterin gegenüber fair ist, ist schwer zu beurteilen. Zu komplex sind ihre Probleme, zu viel prasselt momentan auf sie ein.
Die weiße Hexe
Was der Episode erneut hervorragend gelingt, ist der sehr stimmige, wohldurchdachte Aufbau. Bis zur Enthüllung, dass Adora der eigentliche Bösewicht der Erzählung ist (viele haben es sich bestimmt bereits denken können), streuen Regisseur Jean-Marc Vallée und sein Team immer wieder kleine Momentaufnahmen ein, die unsere schlimmsten Befürchtungen Stück für Stück bestätigen. Und während Camille sich und wir Zuschauer uns allmählich bewusst werden, wie krank das Verhalten von Adora ist - dass sie die „weiße Hexe" ist, die irgendwelche Mittelchen zusammenmischt, die angeblich helfen sollen, aber sehr wahrscheinlich eher großen Schaden anrichten -, sehen wir parallel zu all diesen Szenen, dass sich Amma (Eliza Scanlen) gerade in der Obhut ihrer Mutter und somit in großer Gefahr befindet...
Amma ist sich dieser anfangs wahrscheinlich gar nicht bewusst, zum Ende der Episode scheint es dann zumindest so, als würde sie registrieren, dass irgendetwas nicht stimmt. Während von Patricia Clarkson eine schauerliche Präsenz ausgeht, die ihresgleichen sucht, hat auch Vallée sichtbar Freude daran, endlich Adora wahres Wesen durch ein paar wunderbare visuelle Kniffe offenlegen zu können. Dies zeigt sich allen voran in zahlreichen Aufnahmen, in denen Adoras Gesicht überhaupt nicht zu erkennen ist und wir nur eine Art schwarze Maske wahrnehmen. Sehr subtil mag dies nicht sein, dafür aber ungemein atmosphärisch und gespenstisch. Ohnehin wirken sämtliche Szenen, die sich im Hause Crellin abspielen, als wären sie einem schrecklich unangenehmen Psychohorrorstreifen entnommen.
Wie aus dem Nichts entwickelt Sharp Objects plötzlich eine packende Dringlichkeit. Auf einmal rennt Camille die Zeit davon. Gerade hat sie sich noch mit ihren unterdrückten Trauergefühlen auseinandergesetzt und ihr Verhältnis zu Richard torpediert und jetzt muss sie unter all diesen schwierigen Umständen zu ihrem Elternhaus eilen, um Amma aus den Fängen von Adora zu retten. Diese Aufregung zum Ende der Staffel tut der Serie noch einmal richtig gut. So eine Spannung ging von den Mordfällen um die beiden jungen Mädchen (die vor ihrem Tod anscheinend viel Zeit mit Adora verbracht haben, was unter Berücksichtigung der neuen Informationen bezüglich dieser nichts Gutes erahnen lässt...) bisher noch nicht aus, und das sollte es wahrscheinlich auch nie. Dieser Fall war wirklich nur eine Art Brücke zu der finsteren Familiengeschichte der Crellins, Adoras eigenem Zustand und wie diese die Beziehung zu ihrer ältesten Tochter sowie Camilles Persönlichkeitswerdung entscheidend beeinflusst hat.
Sonstige Gedanken:
- Fühlt sich jemand bei der Auswahl des dieswöchigen Introsongs sonst noch jemand an David Lynchs Twin Peaks erinnert? Diese psychedelischen Klänge, dazu die wild zusammengewürfelten Bilder. Beide Serien verbindet auf den zweiten Blick mehr, als man anfangs gedacht hätte...
- Natürlich endet die Episode mit dem Song „Down in the Willow Garden" von The Everly Brothers, in dem es um einen Mann geht, der seine Liebste umbringt und in der Folge dafür erhängt wird. Alans (Henry Czerny) Musikgeschmack trifft mal wieder genau ins Schwarze. Die Erinnerungen daran, dass er zu diesem Lied mal beschwingt mit Amma durchs Haus getanzt ist, untermauern indes sehr deutlich seine Schuldgefühle. Er weiß, was mit Adora nicht stimmt und was sie ihren Töchtern angetan hat. Und er hat nichts dagegen unternommen.
- Wo wir schon dabei sind: Alan und Jackie könnten ja eine Selbsthilfegruppe gründen: „Die, die von Adora Crellins krankem Verhalten gewusst haben und irgendwie etwas dagegen unternehmen wollten, es aber einfach nicht konnten." Auch wenn ich Camilles Enttäuschung in Jackie verstehe, Elizabeth Perkins könnte ich stundenlang dabei zusehen, wie sie an einem Bloody Mary schlürft.
- So langsam ergibt die Beteiligung der Indie-Horrorfilmschmiede Blumhouse Productions an „Sharp Objects“ immer mehr Sinn. „Get out, Amma! Get out!“.
- Wirklich, Frank (Miguel Sandoval)? Erst jetzt fällt dir auf, dass du Camille am besten nie zurück in ihre Heimat hättest schicken sollen? Die „Journalisten" in dieser Serie soll mal einer verstehen...
- Es dürfte bereits aufgefallen sein: Da Kollege Bjarne sich in seinen wohlverdienten Sommerurlaub verabschiedet hat, werde ich für die letzten zwei Episoden von Sharp Objects in die Bresche springen und ihn bei den Reviews zur Serie vertreten. Im Gegensatz zu ihm habe ich die literarische Vorlage von Gillian Flynn nicht gelesen, also bin ich sehr gespannt, was uns im Staffelfinale erwarten wird. Ist Adora das große Übel, das für alles Schlimme in Wind Gap verantwortlich ist? Wie viel weiß Chief Vickery (Matt Craven)? Und kommt Ashley (Madison Davenport) endlich in die Zeitung oder vielleicht sogar ins Fernsehen?
Trailer zum Finale von „Sharp Objects":