Camille Preaker (Amy Adams) hat viele Probleme in ihrem Leben, doch als Allererstes sollte die alkoholsüchtige Reporterin lernen, wie man Nein sagt. Oder sind es einfach die übermenschlichen Verführungskünste ihrer kleinen Halbschwester Amma (Eliza Scanlen), gegen die sich scheinbar niemand wehren kann? So oder so landet die Sharp Objects-Protagonistin am Ende der neuen Episode Cherry (1x06) völlig zugedröhnt auf einer Highschool-Hausparty. Und so traurig dieser Zustand für sie als erwachsene Frau auch sein mag, für uns Zuschauer ist dies ein Glücksfall, denn berauscht kann der Meisterregisseur Jean-Marc Vallée in seiner Inszenierung endlich erstmals aus den Vollen schöpfen.
Sharp Objects ist und bleibt ein audiovisueller Hochgenuss - wie ich mich schon oft gezwungen sah, hier festzustellen. Die Wahrheit ist aber auch, dass zwei Wochen vor dem Finale das zentrale Mordmysterium der Serie weiter auf der Stelle tritt. Noch immer bietet uns das Drehbuch kaum ernst zu nehmende Verdächtige und da keiner der offensichtlichen Kandidaten am Ende des Rätsels Lösung sein dürfte, droht die große Enthüllung am 26. August zur Enttäuschung zu werden. Und eine Enttäuschung zum Abschluss hätte diese wunderbare Serie wirklich nicht verdient, vor allem, weil es ja laut Adams höchstwahrscheinlich keine Fortsetzung geben wird.
Guten Morgen, Wind Gap
Vallée beginnt die Episode mit einem großen Erwachen: Nach und nach öffnen die Figuren ihre Augen und starten in einen weiteren ereignisreichen Tag. Besonders bezeichnend ist der Anblick bei Camille und Richard (Chris Messina), die mal wieder die Nacht miteinander verbracht haben. Während er entblößt daliegt wie Gott ihn schuf, schlief sie erneut bis zum Hals bekleidet. Als sie aufsteht, streicht sie verträumt über seine makellose glatte Haut. Auch Richard ist nicht entgangen, dass Camille gewisse Probleme hat. Statt sich auf seinen zweifachen Mordfall zu konzentrieren, geht er später am Tag daher ihrer Vergangenheit auf die Spur und ermittelt ihre Vorgeschichte in der Psychiatrie.
Ein weiterer denkwürdiger Aufwachmoment ist der von Alan (Henry Czerny), der nach seiner überraschend erotischen Begegnung mit Adora (Patricia Clarkson) in der Vorwoche allein auf dem Sofa schlief. Umringt ist der altmodische Pantoffelheld von anzüglichen Pin-up-Fotos, passend zu den französischen Chansons, zu denen er sich oft entspannt. Man kann es nicht oft genug betonen: Der Serien-Alan ist eine ganz klare Verbesserung des Alans in der Buchvorlage, der weder so witzig noch so interessant erschien. Auch in dieser Episode hat der Stiefvater von Camille ein paar wunderbare „WtF“-Momente, besonders natürlich im Zusammenspiel mit Adora.
Ginge es nach den beiden, würde Camille allmählich wieder abreisen. Willkommen ist sie nach all dem Chaos, das sie angeblich angerichtet habe, jedenfalls nicht mehr. Die kleine Amma sieht das selbstverständlich anders, denn sie scheint nicht genug zu kriegen von ihrer großen Schwester. Lasziv wie eh und je entführt sie Camille auf ein berauschendes Abenteuer, indem sie ihr Drogen verabreicht und mit ihr rollschuhfahrend um die Häuser zieht. Am Ende des Abends konnte sich Amma mal wieder jeden Wunsch erfüllen. Doch auch Camille schien diese wilde Nacht auf seltsame Weise gutzutun. Wie Amma doch richtig erkennt: „Sie hat ein bisschen Sonnenschein verdient.“
Ein Fahrrad in der Jauchegrube
Ausgerechnet auf dem Firmengelände von Adoras Schweineschlachthof wird das Fortbewegungsmittel der kleinen Ann Nash (Kaegan Baron) entdeckt. Die Reaktion ihres Vater Bob (Will Chase) schließt ihn weitestgehend als Verdächtigen aus, obwohl sein Weinen verblüffend nah an ein Lachen reicht - wohl nur eine Eigenart des Schauspielers. Der zweite Hauptverdächtige, der sensible John (Taylor John Smith), wird ebenfalls ein wenig entlastet; zumindest soll die Art und Weise, wie ihn ganz Wind Gap als Aussätzigen behandelt und als „Babykiller“ beschimpft, Mitgefühl in uns Zuschauern wecken.
Wer bleibt also noch übrig? Dass das Fahrrad ausgerechnet auf dem Grundstück von Adora gefunden wurde, sieht natürlich nicht gut aus für die Crellin-Matriarchin. Andererseits wirkt das Ganze fast schon eher wie ein absichtlich gewähltes Versteck, um ihr etwas anzuhängen - denn Feinde hat Camilles Mutter sicherlich genug. Eine weitere interessante Erkenntnis stammt von Alan, der Camille ausgerechnet mit Adoras Mutter Joya vergleicht, die er im selben Atemzug als „Hexe“ bezeichnet. Einer der Zeugen, der kleine James Campisi (Dylan Schombing), behauptete, dass der Täter eine Frau in Weiß sei, eine Hexe.
Doch das Geniale bei Sharp Objects ist eben, dass der Regisseur Vallée nie einfach nur die Wahrheit zeigt, sondern die Wahrnehmungen der Figuren. Vor allem Camilles Weltsicht weicht oft von der ihrer Mitmenschen ab. Besonders deutlich wird das bei dem Mädelsabend, den sie mit alten „Freundinnen“ verbringt. Dort scheinen alle einen an der Waffel zu haben - bibeltreue Lästermäuler -, nur Camille ist normal, obwohl wir ja wissen, dass sie mit noch viel schlimmeren Dämonen zu kämpfen hat. Soll heißen: Wir wissen nicht wirklich, wem am Ende die brutale Tat zuzutrauen ist, was das Finale im Vorfeld doch noch ziemlich spannend macht. Obwohl die Serienmacher bislang nur wenig Interesse an der Auflösung demonstrierten.
Sonstige Gedanken:
- Man mag von Amma halten, was man will, aber dass sie beim DJ „Can't Take My Eyes off You“ bestellt, spricht für sie.
- Warum tat der Mörder, was er tat? Ashley (Madison Davenport) glaubt, es ging um Popularität. Irgendwie bezeichnend.
- Vallées besonderer Blick fürs Detail gipfelt in dieser Episode in den Pupillen von Amy Adams, die während des Drogenrausches ihrer Figur offenbar durch spezielle Tropfen geweitet wurden, so dass sie wirklich stoned aussieht.