The Irishman: Kritik zum Netflix-Film von Martin Scorsese
The Irishman: Kritik zum Netflix-Film von Martin Scorsese
Fast ein Vierteljahrhundert ist es her, dass der Meisterregisseur Martin Scorsese und die Schauspiellegende Robert De Niro - die zu zweit das vielleicht wichtigste power couple in der Geschichte des amerikanischen Kinos darstellen - zuletzt zusammengearbeitet haben. Mit „Casino“ endete 1995 eine schöpferische Ära, die 22 Jahre vorher mit „Mean Streets“ begonnen hatte und im Lauf der Zeit so unvergessliche Filme wie „Taxi Driver“, „Raging Bull“, „The King of Comedy“, „Goodfellas“ und „Cape Fear“ hervorbrachte. Nach dem Jahrtausendwechsel rückte schließlich Leonardo DiCaprio als Muse des Maestros nach. Und auch hier kam es zu schier unglaublichen Synergieeffekten (siehe „Gangs of New York“, „Aviator“, „The Departed“, „Shutter Island“ oder „The Wolf of Wall Street“).
Trotzdem ist und bleibt De Niro wohl die wahre große Liebe von Scorsese, weshalb man die Bedeutung des Filmes, um den es hier nun gehen soll, gar nicht groß genug bewerten kann. Zugegeben, es hat schon etwas sehr Widersprüchliches, dass ausgerechnet Netflix für die Entstehung des dreieinhalbstündigen Mafiadramas „The Irishman“ verantwortlich ist. Übrigens handelt es sich nicht um einen Schreibfehler: Der Film ist tatsächlich 209 geschlagene Minuten lang. Und genau darin liegt besagte Ironie, da der Streamingservice ja eigentlich von vielen als Untergang der menschlichen Konzentrationsspanne verteufelt wird. Wie viele der Abonnentinnen und Abonnenten ihn am Ende aber wirklich auch am Stück und mit dem Mindestmaß an Aufmerksamkeit verfolgen, bleibt natürlich fraglich...
Ich selbst hatte das große Glück, „The Irishman“ im Kino zu sehen. Und da ich erst Mitte der Neunziger geboren wurde (und damit selbst für „Casino“ noch zu jung war), war es für mich die unerwartete und einmalige Chance, einen dieser guten alten Scorsese-Streifen noch mal „in echt“ zu erleben - nämlich in einem Lichtspielhaus und dann auch noch mit Menschen, die ihn ebenfalls noch nie gesehen hatten. Im Prinzip war es eine cineastische Zeitreise, die Netflix mir und dem Rest des selbstverständlich restlos ausverkauften Kinosaals ermöglicht hat. Und dafür werde ich Ted Sarandos und Konsorten immer dankbar sein. Ja, irgendwie entschuldigt dies sogar die schmerzhafte Absetzung von BoJack Horseman.
Zumal das Comeback der Kombo Scorsese/De Niro nicht das einzige Wunder von „The Irishman“ ist. Hier mal ein paar Namen, die ebenfalls involviert sind: Ray Romano, Bobby Cannavale, Anna Paquin, Stephen Graham, Stephanie Kurtzuba, Jesse Plemons, Harvey Keitel, Kathrine Narducci, Domenick Lombardozzi, Steven Van Zandt, Jack Huston und natürlich Al Pacino - der merkwürdigerweise noch nie zuvor in einem der vielen Mafiastreifen von Scorsese mitgemischt hat - sowie Joe Pesci, der sich eigentlich schon in den Schauspielruhestand begeben hatte. Sie sind die zwei heimlichen Stars des Filmes, wenngleich sich alle Szenen ausschließlich um den titelgebenden Protagonisten, gespielt von De Niro, drehen.
I Heard You Paint Houses
„The Irishman“ basiert tatsächlich auf angeblich wahren Ereignissen - was als Erkenntnis umso schockierender erscheint, nachdem man den Film gesehen hat. Steven Zaillian (The Night Of, „Gangs of New York“, „Schindlers Liste“) schrieb das Drehbuch basierend auf dem 2003 veröffentlichten True-Crime-Report „I Heard You Paint Houses“ von Charles Brandt. Dieser dokumentiert die unglaubliche Lebensgeschichte des Weltkriegsveterans Frank „The Irishman“ Sheeran (De Niro), der durch seinen Militäreinsatz im damals noch faschistischen Europa mit der italienischen Kultur in Kontakt kam und sich daher bestens mit dem italoamerikanischen organisierten Verbrechen in seiner späteren Wahlheimat Philadelphia verstand.