Mit einer Serie, die sich um Penisse dreht, den prestigeträchtigen Peabody-Preis zu gewinnen, ist schon eine Kunst für sich. Auch wir haben die Genialität von Netflix' American Vandal damals bei der Premiere im Herbst 2017 verkannt. Tatsächlich gab es in unserem Review der Pilotepisode nur einen einzigen Stern. Allerdings schien die Prämisse der True-Crime-Parodie zunächst auch äußerst dämlich. Zwei Highschool-Schüler widmen sich in einer Dokuserie à la Making a Murderer oder „The Staircase“ einem Verbrechen auf ihrem Schulhof: Wer hat die Autos der Lehrer mit Geschlechtsteilen bemalt?
#WhoDrewTheDicks wurde rasch zum Topthema unter vielen Serienjunkies. Dabei ist die Schandtat von American Vandal im Gegensatz zu anderen True-Crime-Formaten ja völlig frei erfunden. Für die Serienmacher Tony Yacenda und Dan Perrault ein großes Risiko, denn wer interessiert sich schon für die Aufarbeitung eines Ereignisses, das sich nie ereignet hat? Doch die Rechnung ging auf und gerade, weil die Geschichte fiktiv war, konnten die Autoren die Story spannender erzählen als die meisten normalen Dokumentarfilmer, die sich dummerweise der Wahrheit verschrieben haben. Zu Recht erhielt die Serie in ihrer Auftaktstaffel großes Lob. Netflix hatte daher keine andere Wahl, als sie zu verlängern.
Die nun am vergangenen Freitag, den 14. September veröffentlichte zweite Staffel von American Vandal stellte Yacenda und Perrault vor die nächste Herausforderung: Wie kann man die Penisse vom Vorjahr noch einmal übertrumpfen? Die Antwort: mit Fäkalien - denn bekanntlich lässt sich ja aus Scheiße Gold machen. Den beiden Kreativköpfen gelang dieses Kunststück nicht zuletzt, weil sie den Mut bewiesen trotz des lächerlichen Inhalts ihrer Serie diesmal einen sogar noch ernsteren Ton anzuschlagen. Am Ende der acht neuen Episoden hat man als Zuschauer das Gefühl, tatsächlich tiefsinnige Einsichten zu hochaktuellen Themen wie Social Media und Cyber-Mobbing gewonnen zu haben.
Shitstorm an der Klosterschule
Die zwei Titelhelden Sam (Griffin Gluck) und Peter (Tyler Alvarez) sind zu Beginn der neuen Staffel kleine Berühmtheiten geworden. Ihre Doku wurde landesweit beachtet, so dass sich nun zahlreiche neue Angebote für journalistische Untersuchungen ergeben. Der spannendste Fall: ein episches Durchfallarmageddon an der katholischen St. Bernardine Highschool in Bellevue, Washington. Ausgelöst wurde der Vorfall, dem längst der clevere Spitzname „The Brownout“ verpasst wurde, durch eine mit Abführmitteln versetzte Limonade aus der Schulkantine. Nun suchen Sam und Peter und mit ihnen die gesamte Stadt nach dem mysteriösen Täter, dem sogenannten „Turd Burglar“ beziehungsweise Kack-Bandit.
Wie schon im Fall der ersten Staffel gibt es auch diesmal gleich zu Anfang einen Hauptverdächtigen: den Sonderling Kevin McClain (Travis Tope), der einst selbst zum Außenseiter wurde, weil er sich als Kind während des Sportunterrichtes in die Hose machte. Doch dieser Vorfall liegt Jahre zurück, weshalb es fraglich ist, ob Kevins Motiv tatsächlich Sinn ergibt. Zwar gestand er die Tat im endlosen Verhör der Polizei, doch Peter und Sam erkennen rasch, dass der junge Mann zu seinem Geständnis genötigt wurde. Durch den suspendierten Schüler Grayson Wentz (Jeremy Culhane) erhalten die beiden Spürnasen den Hinweis, dass die St. Bernardine ein durch und durch korrupter Mikrokosmos ist. An dieser Lehranstalt haben die Basketballspieler das Kommando und können sich im Gegensatz zu allen anderen daher quasi jede Freiheit nehmen.
Wurde Kevin von der Schulleitung also nur als Bauernopfer ausgewählt, um den Superstar DeMarcus Tillman (Melvin Gregg) zu beschützen? Er ist der leibhaftige Grund, warum das Team der St. Bernardine seit Ewigkeiten ungeschlagen ist und repräsentiert somit den gesamten Stolz der Bildungsstätte. Er wäre jedenfalls nicht der erste Sportler der Schule, der sich einen fiesen Scherz erlaubt. Sein früherer Mitspieler Perry Coleman (La'Charles Trask) machte fast täglich Ärger und wurde dennoch nie belangt. Wollte DeMarcus als Turd Burglar vielleicht in die Fußstapfen seines großes Vorbilds treten? Zumindest eines ist bald klar: Der Fall ist deutlich komplizierter als anfangs gedacht und tatsächlich gab es noch drei weitere Verbrechen, während das größte von allen noch auf sich warten ließ...
Mehr als nur ein Jungenstreich
Der große Unterschied zwischen Staffel eins und Staffel zwei liegt neben dem sichtlich erhöhten Produktionsbudget in der Härte des Verbrechens. Während die mit Penissen beschmierten Autos maximal als Sachbeschädigung verbucht werden können, grenzt die Vergiftung durch Laxativa eigentlich schon an Körperverletzung. Noch schlimmer ist allerdings die Demütigung, wenn sich die Opfer in unzähligen Internetvideos wiederfinden, in denen sie überzogen sind mit ihren eigenen Exkrementen. Die schockierenden Bilder vom Brownout sind so realistisch ausgefallen, dass sie bei Facebook und Co inzwischen sogar als angeblich authentische Aufnahmen von einem tatsächlichen Streich dieser Art zirkulieren.
Yacenda und Perrault wissen von dem Ausmaß dieser Schandtat und lassen daher die Figuren, die allesamt erneut mit tollen Neuentdeckungen besetzt wurden, klare Worte finden, was den Turd Burglar betrifft. Er wird eben nicht nur als harmloser Schelm dargestellt, sondern als gefährlicher Psychopath. Statt über die Opfer zu lachen, sollen wir als Zuschauer echtes Mitgefühl mit ihnen haben. Gleichzeitig wird aber auch der Umstand nicht verschwiegen, dass hinter jedem Verbrecher selbst ein Opfer steckt. Besonders mit dem heuchlerischen Lehrkörper, also den Erwachsenen, gehen die Serienmacher hart ins Gericht. Auch sie sind moralisch verdorben, obwohl oder vielleicht sogar, weil sie strenggläubige Christen sind.
Es gehört zur Tradition der St. Bernardine, dass die besten Schüler und vier ausgewählte Lehrer einmal im Jahr nach Nicaragua fliegen, um wohltätige Arbeit für die Armen zu verrichten. Die Realität sieht aber so aus: Zwei Stunden lang streichen die privilegierten Teenies irgendwelche Wände und anschließend wird der Rest des Wochenendes in einem Luxushotel durchgefeiert. Wichtig ist nur, dass die reichen Eltern zu Hause zufrieden sind. Der Schein übertrifft stets das Sein. Doch natürlich sind auch die Schüler selbst nicht unschuldig, denn sie genießen diese Scheinwelt mehr als alle anderen. Mit ihren oberflächlichen Aktivitäten bei Instagram und Snapchat beweisen sie, dass sie nichts als hübsche Hüllen sind.
Die Abrechnung
Auch der wahre Turd Burglar, der an dieser Stelle nicht verraten werden soll, hat ein Problem mit dieser Hypokrisie. In einem Pamphlet, das er zeitgleich mit seiner letzten großen Tat veröffentlicht, prangert er alle an, die vorgeben, etwas zu sein, was sie nicht sind. In seiner verbitterten Weltsicht sind alle Menschen genauso unglücklich wie er, doch er allein sei mutig genug, sein wahres Gesicht zu zeigen. Dabei ist natürlich er derjenige, der sich die meiste Zeit hinter einem Alias versteckt und seine Verbrechen nur mithilfe catfishing vollführt, also der Fälschung von Onlineprofilen.
Peter und Sam haben eine andere Meinung zur vermeintlichen Verlogenheit im Internet: Sie sagen, es ist okay, wenn sich Leute online anders darstellen, als sie eigentlich sind. Die digitale Welt bietet jedem die Möglichkeit, der zu sein, der man sein will. Selbstverständlich versuchen wir, uns immer zum eigenen Vorteil zu verkaufen, aber ist das wirklich unehrlich? Vielleicht nutzen wir Fotofilter und Smileys und die genaue Kontrolle darüber, was wir von uns preisgeben und was nicht, nur als Schutzschilde vor einer immer weniger anonym werdenden Welt. Solange wir im echten Leben vor unseren Liebsten keine Geheimnisse haben, können wir für alle anderen doch getrost die Maske aufbehalten. Oder nicht?
Doch American Vandal widmet sich auch schonungslos dem Thema Cyber-Mobbing und zeigt, dass manche Menschen einsamer sind, als es selbst ihre Freunde vermuten würden. Wer ausgegrenzt wird, kommt vielleicht eines Tages auf so dumme Ideen wie der Turd Burglar. Es liegt in der Verantwortung aller, dass niemand auf der Strecke bleibt. Aber leider ist gerade die Schulzeit von Unsicherheiten geprägt und von jungen Menschen, die noch nicht gelernt haben, Rückgrat zu beweisen und zu widersprechen, wenn sie eine Ungerechtigkeit bezeugen. Kaum einer anderen Serie gelingt es so eindrucksvoll, diese Schlüsselphase in unser aller Entwicklung einzufangen. Wer also darüber wegsehen kann, dass es auf den ersten Blick nur um Pipi-Kacka-Witze geht, der wird mit einem der klügsten Formate belohnt, die Netflix zurzeit zu bieten hat.